© GRILL MEDIEN 2015
Porträt
...Klangschaften und Resonanzen...
Anmerkungen zur kompositorischen Arbeit von Thomas Lauck
„...keiner, auch der großen Lyriker hat je mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen –
die übrigen mögen interessant sein... aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination
sind nur wenige...” notierte einst der Autor und Arzt Gottfried Benn seinen Anspruch an ein Kunstwerk,
in ihm nur dem Wesentlichen Raum zu geben. Nur wenige Komponisten unserer Tage können diesem
Anspruch standhalten. Thomas Lauck, Komponist und Augenarzt zugleich, ist einer von ihnen. Mit
größter Sorgfalt werden alle Noten vor ihrer Niederschrift mehrfach „gegen das Licht gehalten”, keine
Note ist je zu viel, alles ist auf das Wesentliche reduziert, um Raum für Expansion zu lassen.
Seine stilistische Eigenart in handwerklicher Akribie der Materialbehandlung beschreibt den
Sonderweg eines unbeirrten Einzelgängers, dessen Werk sich allerdings nur dem erschließt, der sich
auf die Anstrengungen des aktiven Hören einlässt. Das Material seiner Kompositionen gewinnt er wie
der Winzer seine Beerenauslese im Spätherbst: in sorgfältigster Auswahl des Details, nach einer
langen Prozedur der Selbsterfahrung des Hineinhörens in die Einzelklänge, in ihr Eigenleben und ihr
Verlöschen. Als virtuelle Dialogpartner stehen ihm dabei u.a. bildende Künstler und auch literarische
Texte nahe. Die Würdigung des Einzeltons und seiner Resonanz – dieser klanglichen Tragödie des
Verlöschens eines Tones – ist eine seiner zentralen kompositorischen Herausforderungen. Groß kann
bei derartiger Arbeitsweise ein Werkkatalog nicht sein.
In seinem Werkverzeichnis nehmen die „Resonanzinstrumente” Klavier und Schlagzeug einen
zentralen Raum ein: beiden gemeinsam ist die Nicht-Verlängerbarkeit eines Tones. Beides sind
„Diminuendo”-Instrumente: Jedem angeschlagenen Ton wohnt bei seiner Klanggeburt bereits das
Ende durch Verlöschen inne. Dauern und Crescendi sind Illusion und nur mit Hilfe der Anschlagdichte
von Einzeltönen zu haben. Der Einzelklang wird bei Lauck als unverwechselbare „Persönlichkeit”
ernst genommen, der man Zeit geben muss, sich zu entfalten. So entstehen polyphone
Überlagerungen und Vernetzungen in sich ruhender Klangskulpturen, die sich durch aktives,
nachschöpferisches Hören erschließen, was daran erinnert, dass das Hören eine Kunstform sein
kann, die sich trainieren lässt, wie etwa das Klavierspiel. Die Kompositionen Laucks sind eine
anspruchsvolle Herausforderung für unser Ohr – sie bieten und fordern andauernde Konzentration.
Die Schlaginstrumente dienen ihm dabei nicht als exotisches Aroma: Lauck bewahrt durch seine
Resonanzkonzeption und die Würdigung des Einzeltons diesen Instrumenten die Aura ihrer Herkunft
und gehört damit zu den wenigen Komponisten, welche die Würde dieser meist außereuropäischen
Instrumente nicht verletzen; dabei ist der differenziert notierte Rhythmus keinesfalls eine vorwärts
treibende Energie, welche den Zuhörer mitreißt und zwangsläufig durch eine Komposition trägt, er ist
vielmehr die koordinierende, körperlos-schwebende Struktur einer Klang-Architektur.
Allen Stücken Thomas Laucks ist damit eine Statik des Hinhörens eigen: Der Zuhörer verweilt und
erfährt lauschend unbekannte „Klangschaften”, die mit eigenem Zeitkonzept vibrierend an ihm
vorüberziehen. Dabei komponiert Lauck keinesfalls Bilder oder klingende Geschichten: Die Dramen
und Tragödien sind in musikalischen Prozessen des Materials sublimiert, im „plastischen”
Hörbarmachen harmonischer und melodischer Verläufe, die sich immer aus einem klanglichen
Zentrum heraus generieren: „...in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination...”.
Thomas Lauck ist im heutigen Musikbetrieb als Einzelgänger ein Sonderfall, den es zu entdecken gilt,
ist er doch ein Komponist, der wirklich etwas zu sagen weiß.
Bernhard Wulff
Das Komponieren entdecken …
über den Komponisten Thomas Lauck
Ich habe bis 2005 als a.o.Prof. an der Uni Basel gearbeitet, und zwar im Fach Musikwissenschaft.
Irgendwann in den neunziger Jahren tauchte Thomas Lauck in meinen Lehrveranstaltungen auf.
Langsam fanden wir Kontakt. Das ist nicht selbstverständlich: Thomas, immer Komponist,
zwischendurch auch Arzt, von grösster Neugierde auf alle Facetten von darstellender Kunst und
Musik getrieben, und ich, mit der dauernden Analyse mittelalterlicher Musiktheorie in ihrem Verhältnis
zur Philosophie beschäftigt. Ich weiss es bis heute nicht so genau, was Thomas aus meinen
Fachinteressen ableiten konnte. Aber vielleicht kann ich hier kurz erläutern, was aus mittelalterlicher
Sicht bei Komponieren passiert. Denn von da aus ergibt sich – zumindest für mich – ein Verständnis
für neuzeitliche kompositorische Anliegen im Allgemeinen und für Kompositionen eines Thomas Lauck
im Besonderen.
Das Mittelalter kennt Notenschrift, findet sich allerdings so wie heute auch einem Ozean von
auditiven Daten ausgesetzt. Man überlegt sich, wie sich diese vielfältigen Ereignisse strukturieren und
wählt eine bestimmte Menge aus, die man “Musik” nennt. Sie ist charakterisiert durch das Phänomen
des Flüchtigen, genannt “Ton”, und durch einen Ordnungsfaktor, der aus einer anderen Welt zu
stammen scheint, nämlich die “Zahl”. Der Ton mit der Frequenz 238 beginnt und endet irgendwann,
während der Zahlausdruck “238” bleibt – wie auch immer. Soweit man mit Zahlen organisiert, lässt
man sich von der Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen leiten. Ein Intervall von Tonhöhen oder
Zeitspannen besteht aus kleineren Teilen. Man entdeckt im frühen 14. Jahrhundert die symmetrische
Anordnung von Tonhöhen- und Tonverlaufsorganisation, die man dann weit später in mathematischer
Sprechweise eine Gruppe nennt.
Man kümmert sich um den horizontalen Verlauf und leitet daraus eine Analogie zur Sprache ab:
so, wie ein Satz aus den Lauten als den kleinsten Einheiten besteht, so besteht ein Stück aus den
Tönen als den Elementen. Und so, wie in der Sprache die Folge der Laute entscheidend ist, hängt im
Falle der Musik alles von der Folge der Töne ab. Die mystische Komponente formuliert der spanische
Kabbalist Abraham Abulafia im 13. Jahrhundert. Man entdeckt neue Zusammenhänge, wenn man die
Konsonanten eines Wortes kombinatorisch verschiebt. Und genauso entdeckt man neue
Möglichkeiten, wenn man ein vorhandenes tönendes Aggregat kombinatorisch verändert.
Ich versuche im Folgenden, diese Vorgaben in Bezug zu Kompositionen von Thomas Lauck zu
bringen. Es ist dabei nützlich, sich eine solche Komposition als akustisches Weltmodell vorzustellen.
Ein Weltmodell ist ein Objekt, das aufgrund einer begrenzten Menge von Vorgaben – Elementen,
Operatoren – konstruiert ist. Kompositionen von Vivaldi oder Telemann sind keine in sich
abgeschlossenen Weltmodelle, Klavierstücke von Brahms auch noch nicht. In akustischen
Weltmodellen kann man, geleitet nur vom Gehör, verweilen. Man kann darin wohnen wollen, ohne
den Bedarf zu verspüren, andere Stücke hinzuzunehmen.
In den Lauck‘schen Modellen ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis von den Teilen zum
Ganzen jeweils unterschiedlich. Die Frage stellt sich immer, und das bereits aufgrund der Besetzung.
Stücke für Sopran, Oboe und Theorbe oder für Cembalo mit einer Orgelpfeife oder für Bassklarinette
und Klavier mit vier Schlaginstrumenten sind ungewohnt für die Ohren. Wer Ohren hat der höre, wie
die einzelnen Teile das Ganze ausmachen. Die nicht gewohnte Wahl – gewohnt ist Streichquartett,
Klaviertrio etc. – ermöglicht es, sich die Frage nach dem Zusammenhang ganz neu zu stellen.
Die mittelalterlichen Zugangsweisen zur Musik sind einfach. Das hat zwei Vorteile. Man kann mit
fast allen darüber reden, was Musik ist und man kann mit fast allen anhand elementarer Übungen
erleben, was Musik ist. Thomas macht das so, dass er neben der kompositorischen Vielfalt – zu
erörtern sind dann seine spezifischen Behandlungen von Klängen, von Skalen etc. – durch
spezifische Anweisungen in den Partituren die ästhetische Seite, die Wahrnehmungsseite seiner
Hörerinnen und Hörer, regelt. So sieht er für sein Fragment für Kammerorchester eine Cabaze vor
(„aus Kürbis mit dichtem Samenkernnetz“) oder einen Triangel („mittelgr., Schenkellänge ca. 20cm –
ohne best. Tonhöhe –“). Da ist der Komponist um seine Hörer und nicht um seine Analytiker besorgt.
Man hat daher immer die Wahl. Wer analytisch interessiert ist, wird sich fragen, ob in den
Resonanzen II für Klavier und Schlagzeug der D-Teil als Komplement zum ersten Aggregat des
Stücks ein E-Niveau etabliert im Klang f-as-h-dis-e. Das ist eine Frage für Leute mit guten Ohren und
Interesse an der Partitur. Wer ohne Partitur das Gehör schärfen will, möge das Stück „Denk daran,
die Erde ist eine Trommel“ für Schlagzeug-Quartett hören. Der Titel stammt aus einem Gedicht von
Joseph Bruchac, einem in den USA lebenden Abenaki-Indianer. Was hat es mit der Komposition auf
sich?
Ich bleibe bei dem, was sich mir ergeben hat, ohne so zu tun, als hätte ich Laucks Intentionen
verstanden. Ich nähere mich dem Phänomen von der Soziologie her: seit Bourdieu in Die feinen
Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft vom Jahre 1979 gezeigt hat, dass es
Unterschiede bezüglicher musikalischer Präferenzen gibt – Intellektuelle, Akademiker zumal, wählen
die Kunst der Fuge, Handelsvertreter eher Petula Clark (wir sind im Jahre 1979, heute wäre wohl
Helen Fischer oder Andrea Berg einzusetzen) – ist musikalischer Geschmack unter Verdacht geraten.
Nichts gegen Personen, die sich fern von jeder selbstbestimmten Lebenspraxis in Bücherwelten, in
einer intellektuellen Blase aufhalten. Nur könnte es so sein, dass Liebhaber des Modernen genauso
wie Liebhaber von Gucci-Schuhen und teuren Autos etwas Sozialprestige einfordern und nebenher
das Musikalische als ganz spezielle Blase ohne jeglichen Praxisbezug erleben. (Der Philosoph
Nassim Nicholas Taleb gebraucht dafür den Begriff des "Intellektuellen-Idioten"). In unserem
Zusammenhang wäre das Liebe zur modernen Musik als Praxisvermeidung. Ganz anders Lauck, der
als praktizierender Augenarzt das Sehen fördert und als praktizierender Komponist sich dem Gehör
widmet. Wie macht er das?
Der Satzteil „Denk daran, die Erde ist eine Trommel“ stammt aus einem Gedicht, das da lautet:
Nahe den Berge
klingt der Felsboden
hohl
unter den Schritten.
Er sagt dir: Denk daran,
die Erde ist eine Trommel.
Wir müssen sorgsam
auf unsere Schritte achten,
um im Rhythmus zu bleiben.
Wir machen uns das Gedicht klar, indem wir es mit den Augen lesen. Die Laucksche Version des
Satzes ist nicht klangpoetisch, obgleich er uns das Gedicht hören macht. Wir hören die Erde als
auditives Gegenüber, als eine Trommel jenseits von uns, und indem wir hören, gebrauchen wir
unseren Körper als Resonanzboden. Rhythmisches affiziert den Körper immer! "... die Erde ist eine
Trommel", und im Körperbewusstsein werden wir momentan zur Trommel. Lauck verwickelt alle, die
hören wollen, in eine Praxis, in der wir uns üben können.
Wenn wir sorgsam auf unsere Schritte achten, ist das kein Geschäft innerhalb einer Blase,
sondern das sorgsame Befolgen eines Geschäfts der Achtsamkeit beim Gehen. Wir übertragen vom
Gehen auf das Gehör, wenn wir mit dem arbeiten, was die Schlagzeuger im Vollzug der Partitur
machen. Lauck ist kein Moralist, sondern Gelegenheitsschaffer. Wer die Gelegenheit beim Schopf
packt, konzentriert sich meditativ auf eine körperlich spürbare rhythmische Vielfalt. Vorbildung ist –
wie bei allen Lauckschen Kompositionen – nicht gefragt, sondern die Bereitschaft, körperlich aktiv zu
werden. Das Stück verdeutlicht als Organisation von Symbolen auf der Ebene des Hörbaren, was es
heisst, auf die Schritte zu achten.
Wer sich auf Laucksche Kompositionen hörend einlässt, gerät in eine paradoxe Situation. Üblich
ist die Annahme, dass Hörer passiv sind gegenüber denen, die etwas zu Gehör bringen. Wer
allerdings bereit ist, sich körperlich einzubringen, realisiert eine Praxis aus eigenem Recht.
Man könnte angesichts solcher Momente denken, die Laucksche Musik sei esoterisch. Sie lädt
zum Meditieren ein und ist nur in einem eher älteren Sinne nach Innen gewendet und in diesem
ursprünglichen Sinne esoterisch. Man mag sich das überlegen mit dem berühmt gewordenen Satz
des polnischen Semiotikers Alfred Korzybski, der einmal festhielt, die Karte sei nicht das Territorium.
Das Gebiet, auf das wir uns beziehen, bilden wir nicht ab. Wir transformieren es in eine symbolische
Ordnung. Die Eigenheit der Ordnungen innerhalb der akustischen Weltmodelle, wie Thomas Lauck
sie in Noten und Klang vorlegt, verdeutlichen, radikal auf der Ebene des Gehörs realisiert, eine
Symbolordnung in Bezug auf ganz unterschiedliche Territorien.
Soweit solche Modelle radikal sind, zeigen sie die Eigenschaft, dass nur einige wenige Elemente
eingebracht werden, die das Ganze strukturieren, und dass diese Elemente kombinatorisch
verarbeitet werden. Es ist dann so, als wäre man beim Hören in der Zeit, aber immer während einer
gewissen Zeit am gleichen Ort, und vermöge Orte mit dem Gehör zu verbinden, weil ihre
Zusammenhänge kombinatorisch gestiftet sind.
Mehr kann uns Hörern heutzutage nicht beschieden sein.
Max Haas